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4.  Wie könnte man mit dem phraseologischen Wörter- und Lesebuch arbeiten?

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In der gedruckten Ausgabe der Deutschen Redewendungen (1997) haben wir uns eingehend mit der Frage befasst, wie man das Lehrbuch sinnvoll konsultieren könnte, wie man mit dieser Sammlung eine größere Zahl von Phrasemen lernen könnte und wie man selbständig seine persönliche phraseologische Kompetenz erweitern könnte. (Siehe Vorwort Kapitel 2.5, Kapitel 3 und Kapitel 4.- Das Vorwort zum Buch aus dem Jahr 1997 können Sie hier als PDF-Datei ansehen bzw. herunterladen.). An den Grundaussagen hat sich im Laufe der Jahre wenig geändert. Wir möchten daher hier nur kurz das Wesentliche wiederholen und auf einige kleinere Verbesserungsvorschläge hinweisen.

Das phraseolologische Wörter-, Übungs- und Lesebuch enthält ungefähr 1000 bis 1400 Phraseme. Die widersprüchlichen Zahlenangaben der Druckausgabe wurden mit Recht von mehreren Rezensenten kritisiert, aber sie hängen letztlich mit den Varianten der Einträge zusammen. Zählt man z. B. die  Phraseme unter B.1.3,2 : schlafen wie eine Murmeltier / ein Stein / ein Bär / ein Toter / ein Ratz / ein Dachs / ein Sack/ eine Ratte als einen Eintrag, dann ergibt sich verständlicherweise eine niedrigere Gesamtzahl als wenn die Varianten wie im alphabetischen Index einzeln aufgelistet werden. Da komparative Phraseme für Neubildugen offen sind, d.h. eine relativ große Produktivität aufweisen, schien uns bei diesem Beispiel die Lemmatisierung als eine Redewendung überzeugend zu sein.

Von ihrer Konzeption her wendet sich die vorliegende Phrasemdatenbank in erster Linie an fortgeschrittene nichtgermanophone Studierende des Deutschen. Neben der Verwendung im Bereich DaF wäre es aber auch denkbar und wünschenswert, die Beispielsammlung im Deutschunterricht für Muttersprachler einzusetzen, wenn ergänzend zum Sprach- oder Literaturunterricht Phraseme besprochen und in ihrem Kontext erklärt werden sollen. Selbstverständlich kann darüber hinaus jeder, der sich für die Phraseologie des Deutschen interessiert, mit dem Lesebuch sein Sprachgefühl verbessern und mit den Übungen seine Kenntnisse testen. A propos Übungen! Auch hier haben Rezensenten wiederum mit Recht beklagt, dass die Übungen sich nicht kapitelweise an den Wörterbuchteil anschließen, sondern die Kenntnis aller Phraseme des Lehrwerks voraussetzen. Eine wünschenswerte Umstellung hätte aber einen beträchtlichen Arbeitsaufwand erfordert und wir mussten deshalb darauf verzichten. Da zu den Übungen ein Schlüssel vorliegt, sollte man sie eher mit dem Ziel des Überprüfens von phraseologischen Kenntnissen verwenden und weniger als ein Mittel zum Erwerb von Phrasemen.

4.1  Der eigentliche Lesebuchteil mit seinen ausführlichen Zitatbelegen soll zunächst einmal einfach nur zum Lesen einladen und kann ohne große phraseologische Intentionen benutzt werden. (Siehe hierzu auch Ulrich 2002 sowie
B.1.1,4  und Fiedler 2012 für das Englische). Der oftmals außergewöhnliche, besonders interessante und aus dem Rahmen fallende Inhalt der Textbelege möchte dazu beitragen, das jeweilige Phrasem im Gedächtnis des Lesers besser zu verankern. Gleichzeitig wird dem Leser durch den ausführlichen Kontext ein wirklichkeitsnahes Bild von der Vorkommenshäufigkeit von Phrasemen in authentischen Texten vermittelt. Das "phraseologische Lesebuch" bzw. die Phrasemdatenbank dürfte nach unseren Kenntnissen das erste Werk dieser Art sein, das zu einer einzigen Redewendung gleich mehrere, zumeist recht umfangreiche Belege aus verschiedenen Textsorten liefert. Es bildet somit den Ausgangspunkt für weitere Erschließungsmöglichkeiten und erspart allen phraseologisch Interessierten die eigene mühsame Suche nach aussagekräftigen Belegen.

4.2 Intellektuell wesentlich anspruchsvoller wäre dann das folgende Verfahren. Die Phraseme, die unter einem Schlüssel-, Leit- oder Oberbegriff alphabetisch zusammengestellt sind und somit eine Art phraseologisches Wortfeld bilden, könnten im Hinblick auf ihre semantischen Unterschiede miteinander verglichen und gegeneinander abgegrenzt werden. Ähnlich wie in der strukturellen Semantik könnte man versuchen, allgemeine Kriterien zu finden, die auf verschiedene Wortfelder anwendbar sind, wie z.B. im Kapitel
B.1.1 Gesundheit – Krankheit -Genesung  die Unterscheidung zwischen Beginn, Verlauf und Ende der Krankheit oder in Kapitel E.14 /VORWURF/- /BEANSTANDEN/ - /KRITIK/ die Differenzierung zwischen starken und schwachen Vorwürfen oder zwischen direkter und indirekter Kritik. Für den Bereich des phraseologischen Feldes /HILFE/ (D.5) hat dies sehr überzeugend Hartmann (1998) gezeigt. Die Phraseme, die zum Ausdruck von Hilfeleistungen verwendet werden, unterteilt er in zwei größere Gruppen: a) Hilfe bei körperlicher Arbeit und b) Hilfe in einer Notsituation durch Rat und Tat. Dann erfolgt in dieser letzten Gruppe eine weitere Differenzierung, je nachdem ob es sich um eine Abfolge von Hilfeleistungen handelt oder ob es einzelne Hilfeleistungen sind. Da bekanntlich eine vollständige Synonymik auch im Bereich der Phraseologie nicht vorkommt, kann eine solche genaue Erarbeitung der Bedeutungsunterschiede eine phraseologisch reizvolle Aufgabe sein. (Hartmann 1998:147):



 

Hinsichtlich der Beschreibung synonymer Phraseme können sich linguistisch interessierte Dozenten mannigfaltige Anregungen holen aus der Dissertation  von Chr. Hümmer (2009 Synonymie). Die Autorin bemüht sich, zu den Phrasemen des Wortfeldes /FÄHIGKEIT/ (Siehe hierzu das Kapitel C.6 WISSEN – SCHARFSINN – KLUGHEIT – KLUGES HANDELN) relevante, semantische Unterschiede herauszuarbeiten. (Hümmer 2009: 238):

Huemmer

Einen kleinen Teilbereich der phraseologischen Synonyme hat I. Parina in einer korpusbasierten Untersuchung behandelt (2015: 161-172): "Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle: Korpusbasierte Untersuchung und lexikographische Bescheibung der phraseologischen Synonyme". Weitere Möglichkeiten einer nichtalphabetischen Gliederung der Phraseme für (fremdsprachen)didaktische Zwecke behandelt B. Wotjak (2011: 212-220) in ihrem fundierten Beitrag "Ein Wort gibt das andere - Feldstrukturen und Idiome". Neben den onomasiologisch ausgerichteten Feldgruppierungen bespricht die Autorin auch komponentenbezogene Idiomfelder, die in der traditionellen Terminologie als Sachfelder bezeichnet werden und sie geht auch auf phraseologische Reihen sowie auf phraseologische Nester ein.

4.3  Wie unsere Unterrichtserfahrung gezeigt hat, stellt die Schulung des onomasiologischen bzw. ideographischen Denkens eine recht schwierige Übungsform dar. Zu einem Schlüssel-, Leit- oder Oberbegriff sollen jeweils mehrere Redewendungen gefunden werden, und umgekehrt kann man zu einer Redewendung den entsprechenden Schlüssel, Leit- oder Oberbegriff suchen. Solche Übungen setzen jedoch schon eine gewisse Vertrautheit mit dem vorliegenden Lehrwerk voraus. Am zweckmäßigsten beginnt man daher mit der Lektüre einiger relativ gut überschaubarer Kapitel, wie z.B. /ANGST/-/FURCHT/ (B.2.1), /HUNGER/ -/ESSEN/ (B.1.4) oder /FAULHEIT/ (C.16), um langsam ein gewisses Sprachgefühl in diesem Bereich zu erwerben. Allmählich sollte man dann weitere Kapitel erarbeiten. Daran anschließend könnte man nun mit Hilfe des Indexes der Schlüssel-, Leit- und Oberbegriffe sein Wissen testen, indem man vom Abstrakten zum Konkreten geht. Umgekehrt könnte man aber auch von Redewendungen ausgehen, wie sie im alphabetischen Index der Redewendungen verzeichnet sind und versuchen, einen entsprechenden Schlüsselbegriff zu finden. Die Verlinkung ermöglicht ein problemloses Eigenstudium. Bei solchen Übungen zeigt sich sehr schnell die ganze Problematik der onomasiologischen Gliederung, da zu einer Redewendung oftmals mehrere Schlüsselbegriffe denkbar sind und die Abgrenzungen bisweilen recht eigenwillig anmuten. Durch die Verlinkung der Phraseme ist jedoch ein problemloser Wechsel von einer onomasiologischen Gruppe zur anderen möglich, wie z.B. bei dem Phrasem selbst ist der Mann (E.39,3 und H.5,1 ). Für eine aktive phraseologische Kompetenz sind jedoch solche onomasiologischen Übungen unerlässlich, denn der Sprecher oder Schreiber empfindet zunächst Angst, Durst, Hunger usw. und möchte dann diese Empfindungen phraseologisch ausdrücken.

4.4 Am ausführlichsten haben wir uns in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit der semantisch-pragmatischen Analyse der Phraseme befasst. Ausgehend von einer für den Fremdsprachenunterricht nicht ausreichenden Phraseographie in den vorhandenen Lernsammlungen (Ettinger 1989) kreisten unsere phraseodidaktischen Beiträge (1992; 1992a; 1998; 2001)  um das selbständige Lernen von Phrasemen im Kontext und führten allmählich, nach einigen Modifikationen, zu einem in der Praxis erprobten, stark formalisierten Arbeitsblatt, das unter Berücksichtigung der inzwischen von der Phraseodidaktik erarbeiteten Analysekriterien das Entschlüsseln und das Verstehen von Phrasemen im Unterricht für Fortgeschrittene erleichtern soll.
In den ausführlichen Vorreden der Lehrbücher von Bárdosi/Ettinger/Stölting 1992/1998/2003, Hessky/Ettinger 1997 und Ettinger/Nunes 2006 wird das selbstständige Erarbeiten von Informationen zum richtigen Gebrauch von Phrasemen für das Französische (Arbeitsblatt 'Dossier de Pragmatisation' zum Herunterladen), das Portugiesische ((Arbeitsblatt zur Erschließung von Phraseologismen im Text) und das Deutsche als Fremdsprache  (Meine persönliche Phraseologismensammlung) ausführlich erklärt. Im Laufe der Jahre ergaben sich auch Präzisierungen hinsichtlich der aktiven und passiven phraseologischen Kompetenz im Sprachunterricht, die wir in einigen Beiträgen ausführlicher dargestellt haben (Ettinger 2008; "Aktiver Phrasemgebrauch und/oder passive Phrasemkenntnisse im Fremdsprachenunterricht. Ettinger 2013: Ettinger 2019). Im muttersprachlichen Unterricht dürfte es kaum Einschränkungen hinsichtlich aktiver oder passiver phraseologischer Kompetenz geben. Wichtig ist hier das Herausarbeiten der konkreten adressaten- und situationsspezifischen Verwendungsweisen der Phraseme, ihre Funktion in verschiedenen Textsorten ( Literarische Sprache, Mediensprache, Sprache der Werbung, des Sports usw.) und ihre Modifikationsmöglichkeiten. Der Muttersprachler kann dann seinem Sprachgefühl entsprechend Redewendungen verwenden oder auch nicht. Erfahrungsgemäß wird er wesentlich mehr Phraseme verstehen als selber gebrauchen.  Im Fremdsprachenunterricht dagegen sollte deutlich zwischen aktiver und passiver Kompetenz unterschieden werden, aber nicht einfach pauschal. Die einzelnen Teilbereiche des phraseologischen Inventars müssen genau auf eine mögliche Verwendbarkeit untersucht werden. Hinsichtlich der passiven phraseologischen Kompetenz kann es theoretisch nach oben keine Grenze geben. Begrenzungen ergeben sich allenfalls aus der Unterrichtsdauer und den Lernzielen. Profunde phraseologische Kenntnisse einer Fremdsprache erleichtern das gründliche Verstehen von Texten, geben Einblicke in die Sprecherintenionen, machen Allusionen innerhalb der Texte transparenter, ermöglichen das Verstehen von Wortspielen, vor allem in der Werbung, usw. Sie sind Teil einer anspruchsvollen Sprachkenntnis, ähnlich wie elaborierte Wortschatzkenntnisse.  Hinsichtlich des aktiven Gebrauchs sollten gleich mit Beginn des Erwerbs der Fremdsprache auch Routineformeln gelehrt und gelernt werden. Für den Bereich der Phraseme, d.h. der bildlichen Redensarten sowie bei den satzwertigen Phraseologismen (Sprichwörter, Gemeinplätze, geflügelte Worte, Slogans usw.) ist jedoch große Zurückhaltung angesagt. Es fehlt hier noch an Voruntersuchungen, welche Redewendungen einer Sprache als besonders auffällig oder im Gegenteil als unauffällig oder neutral empfunden werden. An Hand einiger weniger, exemplarisch ausgewählter und mit Hilfe von Kontexten ausführlich erklärter Beispiele könnte man die komplexen Gebrauchsbedingungen besprechen und auf die Gefahren eines aktiven Phrasemgebrauchs hinweisen. Hierzu sind allerdings schon gute Fremdsprachenkenntnisse erforderlich. Der Lernende sollte nach der Besprechung eines solchen Phrasems eigenständig mehrere Belege, am besten aus dem Internet, suchen und könnte dann das Phrasem in ähnlichen Kontexten selbständig verwenden. Allenfalls nach solchen intensiven Vorbereitungen kann man es als Nichtmuttersprachler wagen, Phraseme in einer Fremdsprache zu verwenden.


Allen Benutzern unseres phraseologischen Wörter-, Übungs- und Lesebuches wünschen wir viel Freude und Erfolg beim Arbeiten mit den hier angebotenen Materialien.

 

 


 

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